Peter Brandt Blog

MILLA will vor allem eines: schnell da sein

Die Grafik zeigt eine Kursentwicklung als Analogie zu Karriere.

Eine Arbeitsgruppe der CDU-Bundestagsfraktion rund um Thomas Heilmann hat zu einem Expertenaustausch in den Deutschen Bundestag eingeladen, bei dem ihr Konzept MILLA im Fokus steht. MILLA steht für „Modulares Interaktives Lebensbegleitendes Lernen für Alle“ und ist in den Fachmedien schon recht breit diskutiert worden. Verantwortlich sind für das Konzept die Abgeordneten Thomas Heilmann, Marc Biadacz, Antje Lezius und Kai Whittaker. Dr. Peter Brandt schildert seine Eindrücke aus dem Austausch. 

Ein Mittwochmittag Ende Januar in Berlin. Etwas unsicher nehme ich an einem Besprechungstisch Platz, dessen langgestreckte Form nicht zum Zuhören und Meinungsaustausch einlädt, sondern zum „Zugeschaltetwerden“ oder zum Tuscheln mit dem Nachbarn. Umso dankbarer bin ich, dass in meiner Nähe genau der kleine Teil der ca. 30 Anwesenden Platz nimmt, den ich kenne: ein Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften-Sektion Erwachsenenbildung (DGfE), zwei Verantwortliche von der Deutsche Gesellschaft für wissenschaftliche Weiterbildung und Fernstudium (DGWF), je eine/r vom Wuppertaler Kreis und der Arbeitgeberverbände (BDA). Die meisten anderen scheinen aus der Parallelwelt zu kommen, die schon jetzt kaum Berührungspunkte mit der organisierten Erwachsenen- und Weiterbildung (EB/WB) hat und MILLA mit recht offenen Armen begrüßt: die Welt der Start-Ups (Kiron, Babbel), der Digital-Gestalter (Google!) und des E-Commerce. Wer die Runde mit welcher Intention wie zusammengesetzt hat, bleibt ebenso im Dunkeln wie die Verbindungen der Initiative zur Bildungspolitik. Den einleitenden Worten des Chef-MILLAs Thomas Heilmann lauschend, wird es schnell klar: Hier geht es nicht darum, Verbündete aus der Weiterbildungsszene für eine große Idee zu gewinnen und so Allianzen zu schmieden. Nein, hier sind bestenfalls „Fragen erwünscht“ von Betroffenen (oft solchen, die sich in den letzten Wochen öffentlich zu MILLA geäußert hatten), die ihrerseits zur Kenntnis nehmen dürfen, dass es ja gerade ihre Institutionen und Netzwerke sind, die eine rasche Wende in der Weiterbildung verhindern, weil sie den disruptiven Charakter der Digitalisierung noch nicht verstanden haben. Auch als Vertreter einer an leidlich innovativen Entwicklungen beteiligten Leibniz-Einrichtung muss ich hören, dass Heilmann die „Leibniz-Gesellschaft“ (sic!) angesichts mangelnder Innovationsdynamik ihrer Einrichtungen in die Nähe zu trägen Beamtenkohorten rückt, wie sie z.B. in der Bundesagentur für Arbeit zu finden seien. 

Als der Co-MILLA Marc Biadacz die Moderation übernimmt, beginne ich mich willkommen zu fühlen. Ich höre Sätze wie: „Schön, dass Sie sich auf den Weg gemacht haben und uns mit Ihren Perspektiven anregen.“ Konkret werden dann jeweils Blöcke von je ca. 5 „Fragen“ ermöglicht, die danach gebündelt von Heilmann und Partnern beantwortet werden. Ein Diskurs entsteht so nicht; allerdings dient die Methode immerhin dazu, einem großen Teil der Anwesenden innerhalb der vereinbarten Gesamtdauer von gut 120 Minuten die Möglichkeit für ein Statement einzuräumen. Die Einlassungen der Gäste sind sehr unterschiedlicher Art: Wuppertaler Kreis und BDA kritisieren die Voraussetzungen des Konzepts und äußern ihr Befremden über die ambitionierte Rolle des Staates im Konzept. Aus meiner Tischnachbarschaft wird gefragt, wie sich MILLA zu Erkenntnissen der Bildungsforschung verhält: Will man diese überhaupt zur Kenntnis nehmen? Entsprechen die rezipierten Befunde dem State of the Art? Aus dem E-Commerce-Kontext heraus wird nach dem Geschäftsmodell und Leistungsversprechen von MILLA gefragt. Jemand vom anderen Ende des Tisches (ca. 15 Meter entfernt sitzend) beklagt, dass alle so typisch deutsch bedenkenträgermäßig drauf seien; ein sehr junger Mann aus Aachen bietet die Dienste seines Start-ups an. 

Einige Klärungen lohnen sich festzuhalten:

  1. MILLA soll neben und über der „traditionellen Weiterbildung“ stehen. Das muss man erklären: MILLA will einerseits als Zugangsportal zu Weiterbildung aller Art dienen, also als eine Art Referatorium oder Metakursdatenbank funktionieren. Meine Hinweise auf bestehende oder vor der Entwicklung befindliche Strukturen für OER- und Kurssuche und entsprechende Metadatenstandards wurden angehört, so dass die Metasuche über MILLA hier ggf. auf vorhandene Strukturen aufsetzen könnte. Andererseits – und das spricht für das „Neben“ – setzt MILLA ganz auf Formen der Bildung und des Lernens, die mit bestehenden Kursen wenig zu tun hat. Die bestehende Weiterbildungswelt wird zwischen den Zeilen als dafür schuldig erachtet, dass sich nur die Hälfte der Erwachsenen weiterbilden. Es gelte, mit MILLA Teile der anderen Hälfte zu mobilisieren – mit Microlearning, Nuggets und unterhaltsamem Lernen, das die Leute abends auf dem Sofa statt Netflix konsumieren sollen. Hierfür werden sogar – das deutete Marc Biadacz an – einige Summen für größere Werbekampagnen vorgesehen. Hier ist dann auch die Frage nach der ambitionierten staatlichen Rolle für die Weiterbildung angebracht: Wieso fordert ausgerechnet die CDU mehr Staat bei der Weiterbildung ein? Hier brachte die MILLA-Arbeitsgruppe interessante Vergleiche: Heilmann betonte, dass die Betriebe sich niemals würden zusammentun, um so etwas wie MILLA aufzusetzen – so wenig, wie sie sich im Zuge der Industrialisierung für die Schulbildung engagiert hätten. Auch hätte kein Automobilhersteller je den Autobahnbau initiiert. Hier zeigt sich, dass sich die MILLAs vor allem als (digitale) Infrastruktur-Avantgarde verstehen.
  2. Die von MILLA als dritte Säule geplanten „Kompetenznachweise“ verdienen diese Bezeichnung nicht, da sie lediglich als Teilnahmebescheinigungen über belegte Veranstaltungen zu sehen sind. Das ist irgendwie beruhigend, denn dies hätte ja bedeutet, dass man Tausende von Bildungsangeboten auf die durch sie ausgelösten Kompetenzentwicklungen hätte überprüfen oder mindestens definieren müssen, auf welche Kompetenzdimensionen sie jeweils einzahlen – was eine aufwändige Bürokratie bedeutet hätte. Andererseits ist es auch schade, weil MILLA damit ungewollt old-fashioned bleibt und man sich fragt, wofür sie jährlich eine bis drei Milliarden Euro brauchen. Diese neuen Nachweise sind somit nicht ordnungspolitisch gemeint. Jedenfalls konnten alle Fragen zum Marktwert und zur Anrechenbarkeit nicht befriedigend beantwortet werden. Es sollen eigene Währungen entstehen, deren Marktwert bei Arbeitgebern dann schon „irgendwie entstehe“. Man findet bei MILLA, dass man hierzu ohne Rücksicht auf z.B. Kammern losgehen könne, weil „ja keine Leute sterben, wenn wir das machen“. Trägt man so nicht eher zu einer Inflation an Nachweisen bei, statt die Übersichtlichkeit zu erhöhen?
  3. Dem Kuratorium kommt damit auch eine weniger wichtige Aufgabe zu als von mir unterstellt. Ich hatte die bisherigen Unterlagen so verstanden, dass das Gremium für die Qualität der Anbieter und die Relevanz der Angebote geradestehen soll. Was ja kompliziert werden kann, wenn Marktakteure, Kammern und Verbände in Aushandlungsprozesse gehen. Die Einordnung in den Deutschen Qualifikationsrahmen (DQR) und Debatten um Fragen der Kompetenzanerkennung im Valikom-Umfeld waren da bekanntermaßen nur so mittel ermutigend. Aber klar, es ist letztlich ganz einfach, weil es ja schon Akkreditierungsverfahren und Qualitätsmaßnahmen gibt, weshalb das Kuratorium vor allem nur einzelne unerwünschte Angebote auszusortieren soll, z.B. „Tutorials, wie man Sexarbeiterin wird“ (Heilmann). Schön auch, dass man seitens des MILLA-Teams die Auffassung vertrat, es würde, je länger man zusammenarbeitet, auch immer einfacher. „Das ist naiv!“ warf mein Sitznachbar ein, und es kam so etwas wie ein Gespräch auf.
  4. Die Macher von MILLA kennen den Weiterbildungsdiskurs nicht. Sie betrachten den Gegenstand allein aus der Sicht des Digitalpakts. Ihnen sind weder Unterschiede zwischen Input- (Teilnahme, Zeitaufwand) und Outputfaktoren (Lernergebnisse, Kompetenzen) geläufig, noch haben sie Befunde zu Weiterbildungswiderständen wahrgenommen. Immerhin haben sie angeboten, sich noch einmal gezielt mit Bildungsforschern ins Benehmen setzen zu wollen, was andernorts – etwa im BMBF – ohnehin gute Tradition ist. Es ist ihnen aber anzumerken, dass sie, allen voran Thomas Heilmann, Beratungen dieser Art als eigentlich unerfreulich, weil bremsend erleben. Aus ihrer Sicht muss MILLA dringend her und zwar sofort, mit dem Habitus des Start-up-App-Entwicklers. So sagt Thomas Heilmann auch: „Execution ist so wichtig wie das Grundkonzept: kein Beamter, keine Bundesagentur dürfte MILLA je verantworten, nur eine Institution, die Erfahrung im Management digitaler Projekte hat.“

Drei Milliarden Euro  für einen begrenzten Erfolg?

Auf den ersten Blick ist diese Haltung ja sogar verständlich. So heterogen wie das Feld und partikular seine Lobby ist, so wenig wirksamer Widerstand droht MILLA aus dem Feld. Wenn die MILLAs in erster Linie nur etwas neben die bisherige Weiterbildung stellen wollen, und willens sind, auf all das zu verzichten, was ihnen die etablierten Weiterbildungsakteure an Konzepten anbieten können (Kompetenzvalidierung, Qualitätssicherung und Professionalitätsentwicklung), dann und nur dann kann es eine schnelle Lösung geben. Dann dürfen sie keine Rücksichten nehmen. Dann müssen sie einfach machen, auf alle Regeln guter Bildungsreform pfeifen: Evidenz nur eklektisch wahrnehmen, Warnungen überhören, Skepsis als Bedenkenträgertum abqualifizieren. So gelingt ihnen vielleicht das Netflix der Online-Bildung (auch gut!), aber nur mit geringer Wahrscheinlichkeit die erhoffte Weiterbildungswende. Um aus der grundsätzlich mutigen und guten Idee einer staatlich ermöglichten Plattform für Online-Bildung den tatsächlich erforderlichen Digitalisierungsschub für die bestehende EB/WB zu machen, fehlt es offenbar an Feldkenntnis und politischem Gespür für die notwendige Integrationsarbeit. So bleibt die Frage, ob die kalkulierten rund drei Milliarden Euro zusätzliche Aufwendungen des Bundes pro Jahr nicht sinnstiftender eingesetzt werden könnten. Im laufenden „Wettbewerb um die besten Ideen für die Nationale Weiterbildungsstrategie“ (Heilmann) kommt es stark darauf an, was die Konkurrenz, namentlich die SPD und das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) einbringen werden. Öffentlich liegt hier bisher nur ein BMAS-Papier zur Qualifizierungsoffensive vor, das selbst von Gewerkschaftsseite zurückhaltend kommentiert wurde. So ist es nicht unwahrscheinlich, dass MILLA kommt und im Namen des digitalen Wandels mit Blaulicht und Martinshorn unterwegs Milliarden Steuergelder einem doch eher begrenzten Zweck zuführt. Der Aachener Start-up-Vertreter wird es mit Freude zur Kenntnis genommen haben.

Dr. Peter Brandt ist Abteilungsleiter "Wissenstransfer" beim Deutschen Institut für Erwachsenenbildung - Leibniz-Zentrum für Lebenslanges Lernen e.V.  (DIE) in Bonn.

Die Leibniz-Gemeinschaft verbindet 95 selbstständige Forschungseinrichtungen. Ihre Ausrichtung reicht von den Natur-, Ingenieur- und Umweltwissenschaften über die Wirtschafts-, Raum- und Sozialwissenschaften bis zu den Geisteswissenschaften. Leibniz-Institute widmen sich gesellschaftlich, ökonomisch und ökologisch relevanten Fragen.