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Wie kann ehrenamtlicher Deutschunterricht traumatisierten Flüchtlingen helfen?

Gwendolyn und Engelbert Fischer

Engelbert und Gwendolyn Fischer (Bild: Copyright G. Fischer)

Gwendolyn Fischer, Initiatorin der privaten Flüchtlingshilfe „WasBrauchstDu?“ beantwortet grundsätzliche Fragen zum Thema Trauma und zeigt auf, wie gerade die ehrenamtliche Sprachbegleitung therapeutische Wirkung entfalten kann.

wb-web: Was ist ein Trauma?

Fischer: Das Wort Trauma wird heute vielleicht ein bisschen zu oft gebraucht. „Trauma“ (griech.) heißt seelische Verletzung und meint mehr als eine schwere Erfahrung oder eine tiefe Trauer. Ein Trauma im vollen Sinne ist eine existenzielle Erschütterung des ganzen Lebensgefühls. Nichts bleibt so, wie es einmal war. Es verändert das ganze Verhältnis des Menschen zur Welt, und, wie sich bald danach zeigt, zu sich selbst. Eine traumatische Erfahrung –  es können natürlich auch viele zusammenhängende, über einen langen Zeitraum miteinander verwickelte Ereignisse  sein – prägt sich wie ein Brandmal der Seele ein. Es „mineralisiert“, wird nie ganz „verdaut“, obwohl es “verwachsen“ kann mit der Seele und sogar zu einer tiefen menschlichen Reifung beitragen kann. Aber zunächst ist ein Trauma untergründig immer gegenwärtig und versinkt nicht wirklich. Über sogenannte Trigger überfluten traumazugehörige Bilder und Emotionen die Seele, die Vergangenheit bricht in die Gegenwart ein und verstellt den Blick auf die Zukunft.   Oft hat der Mensch dann zunächst keine Kraft, dem etwas entgegenzusetzen und ist der sich vergegenwärtigenden Erinnerung ohnmächtig ausgeliefert. Das zeigt sich unter Umständen an panikartige Reaktionen.

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wb-web: Können Sie uns ein Beispiel geben?

Fischer: Wir sind mitten im Unterricht. Ein Rettungshubschrauber fliegt vorbei. Ein Bursche wird kalkweiß und flüchtet aus dem Zimmer. Für ihn ist ein Bombenangriff im Heimatdorf wieder voll gegenwärtig.

 

wb-web:  Wie reagierten Sie in dieser Situation?

Fischer: Den Rest der Gruppe schickten wir in die Pause. Ich holte ihn behutsam zurück, wir stellten uns ans Fenster und ich erklärte ihm: „Schau, das war der gelbe Rettungshubschrauber, der ist von rechts nach links geflogen. Da drüben muss ein Unfall passiert sein. Bald, vielleicht in zehn Minuten, wird er wieder kommen. Dann fliegt er von links nach rechts, weil da hinten das Krankenhaus ist. Da bringt er den Verletzten dann hin.“ Zu diesem Zeitpunkt habe ich den Schüler nicht nach der erinnerten Situation gefragt. Wir haben einfach die Rückkehr des Hubschraubers gemeinsam erwartet. Ich habe ihn dabei warm um die Schultern gehalten, sodass er seinen eigenen Leib gut spürte. Das Knattern des zurückfliegenden Hubschraubers war dann fast wie eine Befreiung. Er konnte es einordnen. Einordnen ist immer ein erster Schritt, um Ohnmacht zu überwinden. Damit konnte er anfänglich das, was er in Afghanistan erlebt hatte, „in die Afghanistankiste stecken“, und das, was er jetzt in Graz erlebte, davon trennen.


wb-web: Wie zeigt sich noch, dass jemand schwer traumatisiert ist?

Fischer: Es zeigen sich im Alltag häufig Symptome, die man zusammenfassend einem chronisch erhöhten Spannungszustand zuordnen kann. So kann innere Rastlosigkeit ein Hinweis auf eine Traumatisierung sein: wenn jemand  immer wieder aufsteht, etwas Getriebenes hat und sich nicht konzentrieren kann. Man kann es sich so vorstellen, dass „das Haus voll ist“, dass die Seele wie besetzt ist von Erinnerungen, Angstgefühlen, diffusen Fragen und Sorgen. Dann muss man auch damit rechnen, dass alles Gelernte schnell wieder vergessen wird oder nur sehr schwer selbstständig angewendet werden kann.

Oder es zeigt sich durch extreme Angepasstheit.

Ein Beispiel: In unsere Kurse kommt ein junger Mann. Er ist zeitig da, überaus höflich, hilft vorab bei der Zubereitung der Jause und hat einen Blick für das, was für die Vorbereitung noch notwendig ist. Dann fällt auf, dass im Sitzen sein Oberschenkel ununterbrochen wippt, schneller als das Herz pocht. Immer wieder hat er Schweißperlen auf seiner Stirn. Was spielt sich da ab? Menschen, die Traumatisierendes hinter sich haben, verwenden oft unermesslich viel Energie darauf, im Strom des Normalen scheinbar locker mitzumachen. Sie tragen eine Spannung in sich, die sich in “sinnlosen” Körperbewegungen zeigt und die aus der aktuellen Situation nicht erklärbar ist. Es ist nicht die Angst beispielsweise vor einem schwierigen Test. Sondern die Angst, die Spannung ist Konstitution geworden, ist wie eine Zwangsjacke.

 Außerdem haben traumatisierte Menschen oft massive Schlafprobleme. Schlafen bedeutet Kontrollverlust. Im Einschlafen können Bilder, Ängste, Sorgen nicht mehr verdrängt, abgelenkt, geordnet werden. Darum entwickelt sich bei so vielen Flüchtlingen eine Einschlafangst. Am Tag müssen sie dann mit der Auswirkung von viel zu wenig Schlaf ringen. Sie sind gleichzeitig überwach und todmüde.

 Rastlosigkeit und Überangepasstheit können beide ein Zeichen dafür sein, dass der innere „Fluchtmodus“ nicht abgestellt werden kann. Auf der Flucht weiß man ja nie, wo die nächste Gefahr lauert. Da versucht jeder, unauffällig zu sein und gleichzeitig, maximal viel zu überblicken – um oft blitzschnell eine neue Entscheidung treffen zu können! Das ist eine tiefe sogenannte Traumafolgestörung. Sie kann zu Bindungsangst, ja sogar Beziehungsangst führen, obwohl die Sehnsucht nach Beziehung, nach (neuer) Heimat, Stetigkeit und Ruhe ganz groß ist.

 Angepasstheit kommt aber auch oft aus dem Bedürfnis, angenommen zu werden. Das kennen wir doch alle! Geflüchtete sind aus ihrer Heimat, ihrem Familienzusammenhang, ihren Traditionen, aus allem Bekannten und Gewohnten herausgestoßen worden. Hier, wo sie alleine sind und keinen gesicherten Platz haben, werden sie nun andauernd auf etwas gestoßen, was sie NICHT können, NICHT wissen, NICHT erklären können. Und sie können vieles nicht zeigen, ausüben, beschreiben, worin sie vielleicht Meister sind! Sie erfahren sich viel vom Defizit her, sie sind oft die Bedürftigen und die Bittsteller. Das ist schon nach kurzer Zeit beschämend!

 All dies reicht sicher schon aus, um eine weitere häufige Traumafolgestörung zu verstehen: das Vermeiden!  Neben dem klassischen Vermeiden jeglicher Triggersituationen werden aus Angst vor möglichen Fehlschlägen und Enttäuschungen Chancen und Hilfestellungen zuweilen ausgeschlagen oder Verabredungen einfach nicht eingehalten. Ohne das Wissen über Traumafolgestörungen kann das schwer nachvollziehbar und manchmal sehr ärgerlich sein.

 

wb-web: Wie kann man denn damit umgehen? Was hilft?

Fischer: Das Verstehen dieser (Zwangs-) Mechanismen ist einmal das Erste. Einordnen hilft, vor allem gegen das Persönlich-Nehmen! Dann kann man in Ruhe und mit sozialer Phantasie überlegen, was man im Einzelfall machen kann. Verstehen heißt aber nicht, alles zu akzeptieren oder durchgehen zu lassen. Wenn man immer wieder Ausweich- und Vermeidungsreaktionen beobachtet, ist es aber ziemlich sicher, dass noch mit Ruhe, viel Geduld und Wärme am Vertrauen gearbeitet werden muss.


wb-web: Sind Traumata überhaupt heilbar?

Fischer: Bei traumatischen Erlebnissen wird das Leben nie mehr so wie es einmal war. Heilung wird darum immer heißen: Der betroffene Mensch lernt mit der Erfahrung umzugehen, lernt Vergangenheit und Gegenwart zu trennen, vertieft sein Lebensverständnis am Schmerz, aber wird nicht mehr in den Strudel von Schmerz und Bitternis hineingesogen. Die Perle ist vielleicht das schönste Bild für die Reifung an einem Trauma: Der verstörende Fremdkörper ist da, muss vielleicht auch gut umschlossen werden, aber verletzt nicht immer wieder neu, weil aus eigener seelischer Arbeit und Substanz eine Art Integration des Schmerzenden geleistet wurde.


wb-web: Wie kann man als ehrenamtliche Sprachlehrkraft damit umgehen?

Fischer: Ein Schlüssel ist der fähigkeitsorientierte Blick. Man kann mit dem Einzelnen oder mit der Gruppe auf Entdeckungsreise gehen, und herausfinden, was jeder kann. (Anmerkung der Redaktion: Dafür eignet sich eventuell auch das Arbeiten mit Kompetenzkarten.) Im Deutschunterricht kann man zum Beispiel Sprachen hinzuziehen, die die Flüchtlinge können. Mit unseren Afghanen haben wir grammatikalische Unterschiede zwischen Paschtu & Farsi besprochen. So entdecken sie die Welt, die sie kennen und in der sie sich zuhause fühlen, neu.

Oder: Wir haben die Nachbarländer von Österreich besprochen und zehn Worte aus all diesen Ländern gelernt: Guten Tag, gute Nacht, bitte, danke usw. Nach Italienisch, Slowenisch, Ungarisch, Tschechisch haben wir uns von unseren Schülern dasselbe auf Dari, Farsi, Urdu, Paschtu beibringen lassen. Und wir haben die Nachbarländer von Afghanistan besprochen. Das sind winzige Sachen, aber die Geste ist: Einbeziehung der Werte, die sie haben. Und bewusster Rollentausch!

 Das wird ja viel gemacht in den wunderbaren Freizeit- und Integrationsangeboten,  bei gemeinsamem Kochen, bei Musik und Tanz oder bei Festen. Unser Interesse für die Fähigkeiten, Bräuche, Traditionen wirkt erwürdigend, und damit geradezu Trauma-pädagogisch! (Siehe Artikel Drachenbauprojekt) Ein Glücksfall ist auch z.B. der Film „Die Liebenden von Balutschistan“. Es ist eine Reisedokumentation durch das hochgefährliche heutige West-Pakistan, durch das viele Afghanen auf ihrer Flucht hindurch mussten und von dem wir natürlich keine Ahnung hatten. Rollentausch! Auf gleiche Augenhöhe kommen - das wirkt gesundend auf die Wiedergewinnung von Souveränität.

Das Bild zeigt eine Gruppe Lernender.

Sprachkurs im Wohnzimmer des Ehepaars Fischer: Beziehungsangebot ist oft wichtiger als Lerninhalt,  (Bild: Gwendolyn Fischer, CC BY SA DE 3.0)

wb-web: Haben ehrenamtliche Sprachbegleiter andere Aufgaben und Möglichkeiten, als Leiter offizieller Kurse?

Fischer: Ich denke ja! Obwohl es zunächst natürlich zielführend ist, Themen aufzugreifen, die in Kursen gerade dran sind, ist man als Ehrenamtlicher viel freier in dem, was man anbietet oder aufkommen lässt. Wir üben viel von dem, was in den Kursen vorkommt, darum sagen wir auch „Übungs- und Förderunterricht“. Wir lesen laut oder schreiben kleine Diktate, damit die Fähigkeitsbildung im Schriftlichen und im Textverständnis unterstützt wird. Dazu verfassen wir viele Texte selbst, die einen Anstoß geben können für ein interessantes Gespräch in der Gruppe. Auch brisanten oder heiklen Themen geben wir Raum, z.B. den Wahlen, dem Schwarzfahren, Zwangsheirat, oder Ängste hier, Ängste bei ihnen…Das schafft Boden für Vertrauen der Schüler untereinander und für die Gesprächsoffenheit zu uns. Für viele – so mein Eindruck – ist ein „Beziehungsangebot“ wichtiger, als ein neuer Lerninhalt. Der Sprachunterricht ist bei uns oft nur das Sprungbrett für Unterstützung auf ganz anderen Feldern. Diese Freiheit hat man als Ehrenamtlicher!

 

wb-web: Können Sie ein Beispiel schildern?

Fischer: Bei einem Burschen habe ich bemerkt, dass er immer wieder den Kopf seltsam verdrehte, wenn er etwas nicht gut verstand. Leider dauerte es eine Weile, bis mir klar wurde, dass er auf dem rechten Ohr er taub ist. Im Heim und bei Deutschkursen geht so etwas leicht unter. Ein privater, ehrenamtlicher Rahmen kann vielen Fragen, Bedürfnissen, Nöten viel eher Raum geben. Jede gute, verlässliche, vertrauensvolle Beziehung wirkt therapeutisch !

Und das ist kein spezifisches Flüchtlingsproblem, da sind wir Menschen doch alle gleich! Aber in deren Lebenssituation bekommt Mitmenschlichkeit einen extrem erhöhten Stellenwert. Dazu muss man aber kein „Therapeut“ sein oder weiß Gott was für eine Ausbildung haben. Als ehrenamtlicher Lehrer stellt man ja zunächst einfach Fähigkeiten zur Verfügung, die man hat. Das ist schon ein sehr segensvolles Angebot. Und man hat Zeit für Gespräche. Da es oft an allem fehlt, was wir hier oft so selbstverständlich haben, gibt es viel Potenzial, um Türen aufzumachen!

Mein Engagement für Flüchtlinge ist natürlich auch oft anstrengend. Aber ich finde, das macht nichts. Ich empfinde meine Tätigkeit als Win-Win-Situation.

wb-web: Wo liegen die Grenzen? In welchem Fall muss ein ehrenamtlicher Sprachbegleiter professionelle Hilfe beiziehen? Wo?

Fischer: Wenn ein Flüchtling regelmäßig zum Unterricht kommt, sollte man eine kleine Kartei anlegen mit Name, Geburtsdatum, Quartier, Asyl-Status, bisherige Sprachkurse. Außerdem  mit  Name und Telefonnummer vom Regionalbetreuer oder der Bezugsperson zum Beispiel bei der Caritas. Die Betreuer sollten von der Tätigkeit der Ehrenamtlichen wissen. Sie stützen sie oft sehr und manches Heim macht gerne kleine Feste oder Ausflüge, zu denen der Umkreis eingeladen wird. Für alle Beteiligten ist es hilfreich, wenn eine Vernetzung entsteht, nicht erst bei Problemen!

 Bei Sorgen, Auffälligkeiten, Gefährdungen würde ich mich zunächst ans Heim oder an den Betreuer wenden. Außerdem gibt es in jeder Stadt psycho-soziale Dienste, (auch für den "Eigenbedarf"), die je nach Problem weitervermitteln. Für Notfälle: Psychiatrische Ambulanz!

 Obwohl alle Flüchtlinge einen schweren "Rucksack" tragen, gibt es aber fast keine Akutprobleme. Auch die obengenannten Symptome treten - durch die persönliche Zuwendung - nur gemildert auf. Trotzdem: Auch wenn seine Arbeit  "therapeutisch" wirkt, sollte ein ehrenamtlicher Lehrer kein Therapeut werden wollen und sich, wenn nötig, Hilfe holen.

 

wb-web: Was wünschen Sie sich für die Zukunft? Worin sehen Sie Entwicklung und Entwicklungsbedarf?

Fischer: Wenn ich mich frage, was mir guttut, dann ist es der Austausch mit anderen, die ähnlich arbeiten, die ähnliche Fragen, Nöte und Glücksmomente durchleben. Das sind Menschen, die nicht mit einfachen Antworten und Regeln zufrieden sind.

In einem Buch, das ich sehr schätze („Flucht und Trauma“ von Udo Baer und Gabriele Frick-Baer) gibt es ein Kapitel über das große UND: Es ist das Kapitel über die großen Widersprüchlichkeiten. Zum Beispiel dass viele Helfende sehr engagiert sind UND gleichzeitig erschöpft. Sie mögen die Flüchtlinge UND sie ärgern sich über manche Verhaltensweisen… Das Aushalten-Lernen vom UND, das heisst von „vereinbaren Gegensätzen“, ist bei dieser Art  Arbeit unabdingbar!  Der Austausch darüber ist aufbauend und ausbaufähig!

 Ich glaube auch, dass eine effektivere Vernetzung unter den Ehrenamtlichen, aber auch mit der Caritas, der Diakonie, den vielen anderen helfenden Gruppierungen nottut. Vieles läuft nebeneinander her und stützt sich nicht recht untereinander. Dennoch: die Zivilgesellschaft ist eine ganz große Kraft! Täglich kann man freie Initiativen einzelner Menschen entdecken! Das ist begeisternd und sehr motivierend!

Das Bild zeigt das Ehepaar Engelbert und Gwendolyn Fischer.

Engelbert und Gwendolyn Fischer (Bild: Copyright G. Fischer)

Gwendolyn Fischer gründete  zusammen mit ihrem Mann Engelbert und einer emeritierten Waldorflehrerin die private Flüchtlingshilfe "WasBrauchstDu?" in Graz

Empfohlene Literatur zur Vertiefung

Baer, U. & Frick Baer, G. (2016). Flucht und Trauma: Wie wir traumatisierten Flüchtlingen wirksam helfen können. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 

 UNHCR (2016). Flucht und Trauma im Kontext Schule, Handbuch für PädagogInnen (2016). Wien: UNHCR Österreich. 

 Ruf, B. (2012). Trümmer und Traumata: Anthroposophische Grundlagen notfallpädagogischer Einsätze. Arlesheim: Ita Wegmann Institut.

Frankl, V. (1946). … trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. 8. Auflage. München: Kösel Verlag .


CC BY SA DE 3.0 by Lotte Krisper-Ullyett für wb-web.de