Fallbeispiel

Alles außer Rollenspiel

Rollenspiele sind bei Lehrenden aus verschiedenen Gründen beliebt. Sie stellen eine abwechslungsreiche und interaktive Methode dar, die die Teilnehmenden ermutigt, spontan zu reagieren. Oft ist es viel eindeutiger und konkreter, ein Problem in Form einer Szene darzustellen, als es mit vielen Worten zu umschreiben. Bei Teilnehmerinnen und Teilnehmern ist das Rollenspiel allerdings nicht so beliebt. Wie unterschiedlich Teilnehmende eines Kurses auf die Ankündigung eines Rollenspiels reagieren, zeigt das folgende Fallbeispiel. 

1.    Die Situation 

Bis eben lief alles noch wie am Schnürchen. Es ist der Nachmittag des ersten Seminartages eines Konflikttrainings. Die Trainerin Sabine Schlau war bis vor zwei Minuten noch ganz zufrieden. Doch jetzt ist alles anders, denn soeben meldete sich Herr Dr. Wisser zu Wort. Der Teilnehmer, ein Abteilungsleiter, der mit allen Wassern gewaschen ist, lieferte bisher viele konstruktive Beispiele und stellte auch gern mal eine kritische Frage. Jetzt warf er ein: „Rollenspiele sind kindisch, die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Viel zu aufgesetzt und nicht praxisnah. Das können wir doch anders viel besser machen, Frau Schlau.“ Blitzschnell springt ihm Frau Brummig zur Seite: „Rollenspiele möchte ich aus persönlichen Gründen nicht mitmachen!“ Eifrig schlägt Frau Denk vor: „Ich hätte vorher gern noch etwas Theorie, dann können wir nämlich das Gelernte gleich integrieren.“ Herr Bärbeiß befindet: „Weder Theorie noch Rollenspiele. Rollenspiele kosten viel zu viel Zeit, und über den theoretischen Ansatz können wir später noch philosophieren.“

Die Trainerin blickt in die Runde, keine Unterstützung für sie weit und breit erkennbar, stattdessen fast überall ablehnende Körperhaltungen und skeptische Gesichter. Sie ist verunsichert. Mit dem Schreck über den unerwarteten Widerstand kommt die Angst, dass die Situation außer Kontrolle gerät. Sie schwankt zwischen Ärger und Hilflosigkeit. Der folgende Seminarteil ist auf die Rollenspiele und ihre Auswertung aufgebaut. Die Katastrophe scheint unabwendbar.

Sabine Schlau atmet tief durch und nimmt eine selbstsichere Haltung ein. Dann denkt sie daran, dass die Verantwortung für ein gelungenes Seminar schließlich nicht allein auf ihren Schultern lastet und dass es zwecklos ist, gegen so viel geballte Energie anzugehen. Sie versteht diesen Widerstand als Signal, dass äußere Bedingungen es den Teilnehmenden schwer machen, auf ihren Wunsch nach Rollenspielen einzugehen. Frau Schlau interpretiert die Verweigerung als Schutzhaltung der Teilnehmenden, die diese einnehmen, um nicht in Situationen zu geraten, die sie überfordern könnten. Sie verbündet sich also mit dem Widerstand der skeptischen Gruppenmitglieder und drückt ihren Respekt vor deren Haltung aus: „Ich möchte Sie natürlich nicht zu Aktionen nötigen, von denen Sie im Augenblick nicht wirklich überzeugt sind. Ganz im Gegenteil, ich bevorzuge die Methoden, die Ihnen auch Spaß machen.“

Sie weiß, wenn die Teilnehmenden sicher sind, dass nichts gegen ihren Willen geschieht, brauchen sie ihre Energien nicht für den Widerstand gegen Rollenspiele zu mobilisieren. Sie findet noch einige Worte, um die positiven Aspekte dieses Verhaltens zu würdigen. Immerhin wissen die Teilnehmenden genau, was sie nicht wollen – und sie können dazu stehen. Als erfahrene Trainerin kennt Sabine Schlau die Formen, in denen der Widerstand gegen neue, unbekannte oder Ängste fördernde Methoden zum Vorschein kommt.

Angesichts des Widerstands verschiebt die Kursleiterin ihre Absicht, mit Rollenspielen zu arbeiten, und sie überprüft nochmals systematisch, wie sie die Gruppe auf die anstehenden Übungen eingestimmt hat, um so mögliche eigene Fehler zu entdecken.

2.    Mögliche Sichtweisen auf die Situation und darin bestehende Probleme 

Lernaktive Methoden, wie Rollenspiele und andere mit Selbstdarstellung oder Selbsterfahrung verbundene Spiele und Übungen, erfordern Mut. Auch der Einsatz von Video gehört dazu. Deshalb ist eine kurze Erklärung wichtig, warum genau jetzt diese Methode eingesetzt werden soll. Es hilft wenig, auf mögliche Schwierigkeiten hinzuweisen oder gar die Methode selbst zu problematisieren. Schließlich geht es darum, die Teilnehmenden für das Neue zu gewinnen.

  1. Manche fürchten sich davor, dass sie in den Aufmerksamkeitsfokus der anderen Gruppenmitglieder kommen und sich bewähren müssen. In ihren Augen besteht die reale Gefahr, unfreiwillig und versehentlich viel mehr von sich selbst preiszugeben als beabsichtigt.
  2. Bei vielen Menschen gibt es Vorbehalte gegen unbekannte, einer „fremden“ Lernkultur entstammende Methoden. Ihr Einwand ist oft, dass „Spielen“ für Menschen, die eifrig an ihrem Erfolg arbeiten wollen, eher Zeitverschwendung ist. 
  3. Viele glauben, besondere Kreativität erbringen zu müssen, und das setzt sie zusätzlich unter Stress.
  4. Manche Teilnehmende exponieren sich trotz guten Wissens und Könnens ungern, weil sie fürchten, ihre Gefühle offen zeigen zu müssen. Außerdem drängt sich stets allen die Frage auf, wie wohl die anderen den eigenen Einsatz bewerten. Je unklarer es ist, welche Leistung erwartet wird, desto mehr Befürchtungen stellen sich ein.

3.     Mögliche Vorgehensweisen in der Situation

  1. Verhaltenssicherheit herstellen
    Methoden, bei denen sich die Teilnehmenden exponieren müssen, sind leichter einzusetzen, wenn es zuvor Zeit und Gelegenheit gab, sich gegenseitig besser kennen zu lernen. Dann nämlich sind die Reaktionen der anderen berechenbarer. Wer sich persönlich mit seinen Stärken und Schwächen einbringen will, der benötigt Erwartungssicherheit, beispielsweise die Gewissheit, nicht ausgelacht zu werden. Deshalb erfordert die Einführung von Methoden, die Skepsis auslösen, ein fehlerfreundliches Lernklima. Weniger Widerstand gibt es, wenn neue Methoden erst in der zweiten Phase des Gruppenprozesses eingesetzt werden, weil dann schon Vertrauen gewachsen ist. Der Wunsch, zur Geltung zu kommen, wird nun stärker.
  2. Die Teilnehmenden für das Thema begeistern
    Vor der Wahl der Methode kommt die Annäherung an das Thema. Die Teilnehmenden brauchen Gelegenheit, ihr Interesse daran zu entdecken. Kleingruppen können sich beispielsweise bestimmten Facetten des Themas zuwenden; die Teilnehmenden können diese dabei auf ihre persönliche Situation beziehen. Bewegung durch Platzwechsel fördert stets die Aufgeschlossenheit und die Veränderungsbereitschaft. So können in den vier Raumecken jeweils Schwerpunkte des Themas angeboten werden und die Teilnehmenden können den thematischen Schwerpunkt wählen, den sie am interessantesten finden.
    Ein anderer Zugang, ein Thema zu erschließen, läuft über die Aktivierung der Gefühle. Die Teilnehmenden können z.B. aufgefordert werden, durch den Raum zu gehen und dabei verschiedene Körperhaltungen einzunehmen, mit denen sie Gefühle ausdrücken, die sich bei der Bearbeitung des Themas einstellen könnten. Dieses Imaginieren verstärkt die Gefühle und damit die Bereitschaft, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.
  3. Sich selbst erfüllende Prophezeiungen nutzen
    Wollen Kursleitende Rollenspiele in ihrem Unterricht einsetzen, so ist es wichtig, dass sie auf die Leistungsfähigkeit ihrer Methoden vertrauen. Optimismus lässt sich den Teilnehmenden gegenüber in vielfältiger Weise ausdrücken. Fehl am Platz ist die bei anderen Gelegenheiten so gut geeignete Frage: „Was macht es Ihnen jetzt schwer mitzumachen?“ Denn jetzt gilt es nicht, für Schwierigkeiten Verständnis zu zeigen, sondern, die Entschlusskraft zu stärken. Eine geeignete Aussage wäre etwa: „Sie finden schon eigene Ideen zur Umsetzung.“ Dies gibt die richtige Richtung vor. Diskussionen können wohl willkommen sein – aber erst nach dem Spiel. Sonst wird der Elan zerredet.
  4. Konkrete Ziele fördern
    Nachdem das Thema in der Gruppe präsent geworden ist, ist es wichtig, das Anliegen jedes Gruppenmitglieds, das sich beteiligen soll, zu konkretisieren. Hierfür brauchen die Teilnehmenden Zeit, um ihre Ziele genau zu bestimmen. Eine Nachdenkpause, eine Phantasiereise, das Malen eines Bildes oder einer Skizze oder die Wahl von Symbolen, die für das zu bearbeitende Anliegen stehen, können helfen, Überlegungen auf den Punkt zu bringen. Projektive Verfahren, wie die Wahl von Symbolen oder das Malen von Bildern, bewirken ein intuitives Herangehen, das es möglich macht, Unbewusstes oder verdrängte Anteile mit einzubeziehen. So werden Gedanken und Gefühle angeregt.
  5. Den Nutzen für den Einzelnen herausstellen
    Mit Rollenspielen ist die individuelle Bearbeitung von mitgebrachten Themen leicht möglich. Der Nutzen für den Einzelnen ist dadurch ausgesprochen groß. Der Wert für die Gruppe liegt, neben der mitzuerlebenden Lösung oder zumindest Bearbeitung einzelner Anliegen, in der hinterher erfolgenden Verallgemeinerung der konkreten Lösungsideen. Darüber hinaus findet lebendiges Lernen statt.
  6. Startschwierigkeiten senken
    Eine niedrige Einstiegshürde für Rollenspiele kann auch durch das im Folgenden beschriebene Vorgehen geschaffen werden. Ob die Kursleiterin damit möglicherweise Abstriche am Trainingskonzept für das Seminar hinnehmen muss oder ob der vereinfachte Einstieg doch noch zu intensiverem Vorgehen überleitet, entscheidet sich nach den ersten Übungen.
    Die Gruppenmitglieder bilden Paare und alle Paare handeln gleichzeitig. So gibt es keine verunsichernden Beobachter. Die Neugier wird weiter angeregt, wenn die Aktivität nach kurzer Zusammenarbeit mit neuen Partnern fortgesetzt wird. Wenn alle Paare die gleiche Aufgabenstellung bearbeiten, bietet sich eine weitere Möglichkeit der Unterstützung. Teilnehmende mit der gleichen Aufgabe können sich zur Vorbereitung des Rollenspiels jeweils in einer eigenen Gruppe zusammenfinden. Das erleichtert einerseits die Aufgabe, weil Ideen zur Bewältigung ausgetauscht werden können, andererseits steigt durch die qualifizierte Vorbereitung auch der selbst erzeugte Leistungsdruck, das Gehörte umzusetzen. Schließlich hilft auch die Möglichkeit, jederzeit aus dem Spiel aussteigen zu können. Ein symbolischer Stafettenstab, der jederzeit an einen neuen Akteur weitergegeben werden kann, fördert den Mut einzusteigen.

4.    Herleitung und Begründung der Vorgehensweisen

In unserem Beispiel haben sich die Teilnehmenden geweigert, bei Rollenspielen mitzuwirken. Die Kursleiterin Sabine Schlau hatte sich angesichts des Widerstandes entschlossen, ein anderes Vorgehen für das Bearbeiten des Seminarthemas „Konflikte“ zu wählen. Prinzipiell bieten sich ihr vier Möglichkeiten, mit dem Widerstand umzugehen.

  1. Erstens kann sie den Widerstand akzeptieren und einen anderen Vorschlag bringen. Die Schwierigkeit liegt dann darin, das passende Vorgehen auszuwählen. Gelingt es ihr, die Stimmung richtig zu erfassen, so verspricht diese Strategie in der Orientierungsphase zu Beginn des Gruppenprozesses am meisten Erfolg, weil die Gruppe noch überfordert ist, wenn sie selbst entscheiden muss.
  2. Die zweite Möglichkeit besteht darin, auf die Durchführung der Rollenspiele zu bestehen. Die Botschaft an die Teilnehmenden lautet sinngemäß:  „Vertrauen Sie mir. Ich bin die Kursleiterin und meine Erfahrung sagt mir, dass diese Methode Sie am besten voranbringt. Kritik darf sein, aber erst nachdem Sie die Methode erprobt haben.“ Der Erfolg dieses Vorgehens hängt dabei von ihrer Autorität sowie von der Stärke und den Gründen des Widerstands ab. Sie läuft allerdings Gefahr, dass die Teilnehmenden, wenn sie überredet statt überzeugt werden, wenig engagiert mitarbeiten.
  3. Bei der dritten Variante verschafft sich die Kursleitende zunächst Einblick in die Stimmungs- und Gefühlslage der Gruppe. Das Ergebnis nutzt sie als Ausgangspunkt, um sich gemeinsam mit der Gruppe auf ein Vorgehen zu einigen. Das ist die beste Entscheidung in der Phase der Arbeitslust und Produktivität: Zu diesem Zeitpunkt haben sich bereits gefestigte Arbeitsbeziehungen entwickelt, die tragfähig genug sein sollten, eine akzeptable Lösung für alle oder zumindest für die Mehrheit zu finden.
  4. Wenn die Bearbeitung der entstandenen Situation im Rahmen der vereinbarten Lernziele untergebracht werden kann, eröffnet sich eine weitere, vierte Möglichkeit. Die Kursleitung kann im Hier und Jetzt arbeiten. Dann würde sie die entstandene Situation als Konflikt deuten und als methodischen Ausgangspunkt für die Arbeit mit Konflikten nehmen. Der Vorteil dieses Vorgehens besteht darin, eine authentische Situation zu bearbeiten. Unmittelbar am Klärungsprozess beteiligt zu sein, ermöglicht auch, die dabei entstehenden Gefühle mit einzubeziehen.

Quelle

Szepansky, W.-P. (2010). Souverän Seminare leiten. Bielefeld: W. Bertelsmann.

Passende Wissensbausteine

Passendes Material