Fallbeispiel

Ohne Moos nix los

Wer  den Mindestlohn erhält, muss mit einem Bruttolohn von unter 1300 Euro auskommen. Auch wenn bei Familien noch Kindergeld dazukommt, ist daher der Umgang mit Geld eine dauerhafte Herausforderung für die Betroffenen, die sich auch auf das Lerngeschehen in der Gruppe auswirkt. Denn die Sorge ums Geld bindet Energien, die der Lernende eigentlich für die Verarbeitung des Gelernten benötigt. In diesem Fallbeispiel werden Handlungsalternativen dargestellt, wie man mit dem Thema Überschuldung im Rahmen einer beruflichen Weiterbildung umgehen kann.

1.    Die Situation 

Frau Kant führt einen Kurs in der arbeitsorientierten Grundbildung für Beschäftigte eines Recycling-Unternehmens durch. Der Kurs umfasst täglich zwei Stunden nach Schichtende, eine Stunde wird als Arbeitszeit gewertet, eine Stunde ist unbezahlte Mehrarbeit. Thema ist die Förderung von Soft Skills, die in der Arbeit mit den Kunden relevant sind. Frau Kant fällt auf, dass einige Lernende ständig übermüdet erscheinen und Mühe haben, dem Unterricht zu folgen. In Pausengesprächen erfährt sie, dass einige Lernende abends noch Reinigungsjobs übernehmen müssen, weil sie von Lohnpfändungen betroffen sind. Im Gespräch mit den Personalverantwortlichen erfährt sie, dass das Problem der Lohnpfändung viele der beschäftigten Geringqualifizierten betrifft.

2.    Mögliche Sichtweisen auf die Situation und darin bestehende Probleme 

  • Weil das Thema Umgang mit Geld und Schulden zwar einige, aber nicht alle Lernenden betrifft, ist Frau Kant unsicher, wie sie damit umgehen soll. Sie will vermeiden, dass einzelne Lernende als Betroffene zur Schau gestellt werden und als „Verlierer“ dastehen. Andererseits sieht sie, dass die Problematik Geld unmittelbar aufs Lernen einwirkt, also zum Thema gemacht werden sollte. Allerdings hat sie mit dem Unternehmen als Inhalt des Kurses Soft Skills vereinbart; das ist zwar ein weites Feld, aber Umgang mit Geld ist sicherlich kein Teil davon. Die Bearbeitung des Themas Umgang mit Geld müsste also mit der Unternehmensleitung abgesprochen werden.
  • Wie die Betroffenen auf einen Vorschlag reagieren würden, den Umgang mit Geld zum Unterrichtsthema zu machen, kann Frau Kant im Vorfeld kaum einschätzen. Es kann sein, dass die Betroffenen das Thema ablehnen, weil es mit Scham und dem Gefühl des eigenen Versagens verbunden ist. Vielleicht wollen Sie es unbedingt vermeiden, dass ihre Not öffentlich wird. Es kann aber auch sein, dass das Vertrauen in die Kompetenzen von Frau Kant so groß ist, dass sie sich durch die Bearbeitung konkrete Hilfestellungen zu einer Verbesserung ihrer Situation erhoffen.
  • Auch die Einstellung der Lerngruppe zum Thema ist schwierig vorherzusehen. Es kann sein, dass die Gruppe dankbar ist für ein derartiges Angebot, weil Geldknappheit ein Problem aller Geringqualifizierten ist. Es kann aber genauso wahrscheinlich sein, dass die Gruppe dies als ein Thema ansieht, das privaten Charakter hat und in der Verantwortung des Einzelnen liegt, sich also für eine Thematisierung im Unterricht nicht eignet.


3.     Mögliche Vorgehensweisen in der Situation

  1. Frau Kant entschließt sich, das Thema und damit die Problematik zu ignorieren, weil es nicht Teil des ausgehandelten Angebots mit dem Unternehmen ist.
  2. Frau Kant bietet an, zusätzlich für diejenigen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen wollen, einen Kurs zum Thema Umgang mit Geld anzubieten.
  3. Frau Kant lädt für einen Unterrichtsblock einen Mitarbeiter der städtischen Schuldnerberatung ein, der über seine Arbeit informieren soll.
  4. Frau Kant entschließt sich nach Absprache mit der Unternehmensleitung, den Umgang mit Geld zum Unterrichtsthema zu machen und anhand von Fallbeispielen das Thema zu bearbeiten.

4.    Herleitung und Begründung der Vorgehensweisen

Zu 1:  Diese Vorgehensweise der Tabuisierung wäre sicher der einfachste Weg. Das Problem, dass die Geldsorgen auf das Verhalten und die Konzentration der Lernenden einwirken, würde aber fortbestehen.

Zu 2:  Dieser Versuch, ein exklusives Angebot für die Betroffenen zu machen, ist ein gangbarer Weg. Allerdings spricht dagegen, dass die Betroffenen zusätzlich noch mehr von ihrer knappen Ressource Zeit einbringen müssten und zum anderen durch ihre Beteiligung ihre Not öffentlich würde und sie möglicherweise in der Gruppe diskreditiert.

Zu 3:  Mit dieser Vorgehensweise wäre zumindest gesichert, dass die Betroffenen wissen, an wen sie sich wenden können und welche Hilfestellung sie von der dortigen Beratungsstelle erwarten können. Inwieweit dieses Angebot dann tatsächlich genutzt wird, kann Frau Kant allerdings nicht beeinflussen.

Zu 4:  Das Thema zum Unterrichtsgegenstand zu machen und mit Fallbeispielen zu arbeiten, ermöglicht es den Lernenden, selbst zu entscheiden, inwieweit sie ihre Situation einbringen, welche Aspekte sie aus ihrer Situation heraus vertiefen möchten und wo sie konkrete Hilfestellung anfordern. Dabei muss niemand der Teilnehmenden sich selbst als Person, die mit Schulden kämpft, outen. 


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