Erfahrungsbericht

Ich merke, dass ich nicht stagniere: Waldorfpädagogik für Flüchtlinge

Das Bild zeigt einen jungen Mann beim Korbflechten.

Zeigen, welche Exaktheit sie in ihren Händen haben
(Hildegard Krug-Riehl, CC BY SA 3.0 DE)

Gwendolyn Fischer erzählt über Waldorfpädagogik im Allgemeinen und über die Flüchtlingsklasse an der Grazer Waldorfschule im Besonderen.

wb-web: Wie haben Sie Ihren eigenen Sprachunterricht an der Waldorfschule in Erinnerung?

Fischer: Zu meiner Zeit, ich bin 1951 geboren, war der Unterschied zwischen Waldorfschulen und staatlichen Schulen noch viel größer als heute. Schon ab der ersten Klasse, also im 7. Lebensjahr, hatten wir Englisch und Französisch. Wir haben vor allem gesungen, Gedichte gesprochen, kleine Theaterstückchen aufgeführt und fast gar nichts geschrieben. Wir lernten die Sprache so wie eine Muttersprache, durch Nachahmung, Gehör, Mimik und Sprechen. Rhythmus war dabei ein „goldumrahmtes“ Wort. Wir lernten viele Reime! Und viel durch Anschauung. Z.B. gingen wir hinaus in den Schulgarten, lernten die Sprache beim Pflanzen setzen, und unsere Hände, Finger, das Riechen ...das war alles miteinbezogen. Es war Erlebnispädagogik auf elementarer Stufe.


 

wb-web: Bitte erzählen Sie uns über die Einrichtung der Geflüchteten-Klasse.

Im September 2016 wurde für 15 Asylwerber, 17-19-jährige Burschen aus Afghanistan, die gerade dabei sind, aus dem Status UMF (unbegleitete minderjährige Flüchtlinge) herauszufallen, eine Klasse in der Grazer Waldorfschule eingerichtet. Einstiegsbedingung war A1 Niveau und dass sie es binnen eines Jahres schaffen können, in die Schlussvorbereitung für den Pflichtschulabschluss zu kommen. Dieser Leistungsanspruch hängt mit den Förderungen und dem Genehmigungsverfahren zusammen. Unsere Schüler bekommen aber in diesem Jahr fast das volle Waldorf-Schulprogramm: neben Deutsch, Englisch, Geografie und Mathematik haben sie Eurythmie, Sport und viele handwerklich-künstlerische Fächer wie Korbflechten, Schmieden, Weben. Und sehr viel Singen. Singen, Musical, Theaterprojekte und Sport machen sie gemeinsam mit den anderen Schülern.


wb-web: Sind Ehrenamtliche in das Projekt involviert?

 Es gibt eine Reihe von Ehrenamtlichen als Unterrichtsbegleiterinnen und -begleiter, damit ein Klassenlehrender nie allein in der Klasse steht. Ich komme auch mindestens einmal pro Woche in die Klasse. Ich versuche wahrzunehmen, wo jeder steht, wie stabil er ist und führe  Einzelgespräche.


 wb-web: Wie zeigt sich aus Ihrer Sicht der Erfolg?

 Ich selber betrachte die Klasse und die einzelnen mit dem „Traumablick“. Ich muss nicht so stark auf die Leistungen oder das Reizthema Pünktlichkeit  schauen (was ein sehr spezielles Lernfeld ist!). Für mich ist das Wichtigste: Ist die Schule für unsere Schüler ein sicherer Ort? Äußerlich sowieso - aber ich meine auch innerlich durch die Art, wie wir miteinander umgehen, wie Unterschiede, Schwächen, ja Entgleisungen Platz haben und Chancen zu Reifungsschritten im Sozialen bringen. Wird die Schule sogar wie zu einem “Zuhause“, wo ich mit dazu gehöre, einfach weil ich „Ich“ bin? Zentral für unser ganzes Team ist, dass wir das Konfliktaustragungsniveau heben: Statt Fäuste: Reden! Von Beschimpfung zu gewaltarmer Kommunikation! 

Besonders freut mich immer, wenn ich wahrnehme, dass überangepasstes Verhalten,  in dem immer viel Unfreiheit oder unterdrückte Angst steckt, sich in mehr Souveränität verwandelt. Das ist ein Entwicklungserfolg einer ressourcenorientierten Pädagogik:

  • Schule als Ort größtmöglicher Sicherheit
  • Schule als Ort verlässlicher Beziehung
  • Schule als Ort der Ermutigung

Diese drei Richtworte aus dem Leitfaden für Notfallpädagogik, herausgegeben von den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, charakterisieren unser Kernanliegen.

wb-web: Gab es seitens der Eltern Widerstand?

Es gab intensiven Rückenwind und Unterstützung, aber auch massiven Widerstand. Bis zu: „Da kann ich  meine Tochter ja nicht mehr zur Schule lassen!“ Davon ist nun nichts mehr zu hören. Die Burschen werden am Schulhof  wahrgenommen, die Schülerinnen und Schüler kommen uns immer ungezwungener in der Klasse besuchen.



wb-web: Wird die Waldorfpädagogik genau wie in den anderen Klassen angewendet?

 Von der Gesinnung her: Ja.

Von der Durchführung her haben wir es bei einer Flüchtlingsklasse (dazu einer reinen Burschengruppe) mit einer sehr speziellen Situation zu tun. Z. B. müssen viele Lerninhalte und Fähigkeiten vermittelt werden, die biografisch viel früher dran wären. Viele unserer Schüler waren in Afghanistan nie in einer Schule. Sie haben vielleicht in einer Moschee Lesen und Schreiben gelernt, aber im Rechnen nicht einmal Multiplizieren und Dividieren. Nun müssen sie sehr viel nachholen, aber auf eine Weise, die doch bestmöglich ihrer Altersstufe entspricht. Das erfordert sehr viel pädagogisches Geschick vom Lehrenden.

Grundprinzipien der Waldorfpädagogik werden aber in der Geflüchteten-Klasse so konsequent  wie möglich angewendet.


Der Dreischritt beispielsweise:

  • Erster Tag: Ein Lernthema anlegen: Beispielsweise die reflexiven Verben: Du hast dich gefreut. Ich habe mich gefreut….Im ersten Schritt werden wir auf ein grammatikalisches Phänomen aufmerksam. Wir entdecken viele Beispiele in einem Text, wir schreiben viele Sätze dazu auf. Wir sprechen die Sätze und betonen besonders. Mich.. dich… sich…
  • Zweiter Tag: Das grammatikalische Gesetz begreifen: Die gestrige Übung wird erinnernd wiederholt, dann wird der Schüler angeregt, das Gesetz zu finden, er wird in einen Erkenntnisprozess eingeladen. Die Idee ist, dass man das Gesetz nicht nur verkündet, sondern dass man es gemeinsam mit dem Schüler entdeckt.  Damit schult man das eigenständige Denken. Man versteht Denken als Entdeckungsfähigkeit, als schöpferischen Vorgang. Am Schluss sollen es natürlich alle begreifen, auch die, die das Gesetz nicht selber entdecken konnten, es aber mitdenkend begreifen können.
  • Dritter Tag: Umsetzung und  Anwendung: Der Schüler lernt, das Gesetz in Bezug auf Neuland anzuwenden. Das heißt: eigene Sätze bilden, kleine Geschichten erfinden, kleine Rollenspiele machen. Alles, was mit Bewegung und ein bisschen Theaterspielen verbunden wird, machen unsere Burschen besonders gerne. Wenn sie ihre eigene Phantasie anwenden dürfen, lernen sie, glaube ich, ganz besonders viel. 

wb-web: Wie sieht es mit Wortschatztraining aus?

 Bei der Flüchtlingsgruppe arbeiten wir stärker mit einem Lehrbuch als sonst. Weil man ein Lernziel innerhalb festgelegter Zeit hat, und weil sie sehr buchfixiert sind. Sie haben in Deutschkursen vorher ihren Fortschritt stark an bewältigten Kapiteln erlebt und sehen, dass in Europa Bücher und Tests einen enormen Stellenwert haben. Ein Waldorfschüler schreibt sonst selber seine Epochenhefte, mindestens parallel zu den Lehrbüchern, weil dadurch die eigene Ausdrucksfähigkeit geschult wird. Jedenfalls wird an Waldorfschulen - und auch in der Flüchtlingsklasse -  so wenig wie möglich mit Multiple Choice gearbeitet. Der Schüler soll Fragen möglichst eigenständig beantworten und wird dadurch zu eigenem Ausdruck angehalten und herausgefordert.  In der Flüchtlingsgruppe arbeiten wir darüber hinaus viel mit Rhythmus, Gedichten, Sprichworten. Das vertieft das Sprachempfinden, die Differenzierung in Ausdruck und Gedanken. Und das wiederum wirkt zurück auf den ganzen Menschen, der sich ja an der Sprache entwickelt! 

wb-web: Wie sieht es mit Handwerk aus?

Das nimmt viel Raum bei uns ein! Über Materialkunde und Materialbearbeitung lernt man ein Stück Welt kennen, lernt Arbeit anderer wertschätzen und schult den eigenen Charakter, wenn man Geduld und Sorgfalt aufbringt! Außerdem können viele durchs Flechten, Schmieden, Schreinern… zeigen, was sie vielleicht in der Heimat schon gelernt haben und welche Exaktheit sie in ihren Händen haben. Wir haben viele unserer Schüler  an einer Werkbank von einer ganz neuen Seite kennengelernt! Und manch einer erlebt sich dabei selber in dem, worin er schon gut ist! Das beflügelt!

Das Bild zeigt einen jungen Mann beim Korbflechten.

Zeigen, welche Exaktheit sie in ihren Händen haben
(Hildegard Krug-Riehl, CC BY SA 3.0 DE)

wb-web: Wäre es besser, die afghanischen Jugendlichen wären auf die Klassen aufgeteilt worden?

Das besondere an der Grazer Klasse ist, dass sie als eigene Klasse geführt wird. Viele Schulen haben Flüchtlinge in bestehende Klassen aufgenommen. Bei uns wurde für sie eine 13. Schulklasse angebaut. Aber nun, nach mehr als einem halben Jahr, fehlt einigen, die schon hinaus in die Welt wollen, der Alltag mit gleichaltrigen Österreichern und Österreicherinnen. Sie würden sich eine 50:50 Klasse wünschen. Es ist also nicht das allein Seligmachende, aber es ist so geworden, und es hat seine guten Seiten.


wb-web: Wo und wie wird das gewachsene Know-how weitergegeben?

 Es gibt immer mehr Vernetzung mit der Stadt und mit anderen Waldorfschulen. Und immer mehr Fortbildungen. Die Erfahrungen, die wir machen, fließen außerdem ein in den Masterkurs für Waldorfpädagogik, den das Zentrum für Kultur und Pädagogik in Wien in Zusammenarbeit mit der Alanus-Hochschule in Deutschland und der Uni Krems anbietet. 


wb-web: Was ist schlussfolgernd die Relevanz für ehrenamtliche SprachbegleiterInnen?

 Den ehrenamtlichen Sprachbegleiterinnen und Sprachbegleitern kann ich den Dreischritt, Lieder und alles Rhythmische und viel Lernen im Zusammenhang mit Erlebnissen empfehlen.  Und, das klingt vielleicht albern, aber: Wir klatschen viel. Mit den Händen einen Rhythmus, mit den Füßen kommt ein anderer dazu, das fördert die leibliche Koordination und damit auch die Konzentrationsfähigkeit! Und noch ein letztes: Am Anfang der Woche gibt es immer den Vorblick: Was wollen wir am Ende der Woche besser kennen bzw. können? Wir setzen uns ein Ziel! Am Ende der Woche machen wir den Rückblick. Wir machen uns bewusst, was wir gelernt haben, was ungeplant dazu gekommen ist und wie wir jetzt anders drin stehen in der Welt. Der Mensch, der sich einen Plan macht, und dann zurückschaut, der erlebt sich als ein Lernender! Ich merke, dass ich nicht stagniere!

 

wb-web: Was wünschen Sie sich als Hilfe oder Verbesserung für die Zukunft?

Da erwarten Sie vielleicht eine ganz andere Antwort - aber unser größter Wunsch wäre:

Weniger quälende Unsicherheit und Verunsicherung bei den Asylverfahren. Eine Humanisierung der Rechtslage! Perspektiven für Ausbildung und Arbeit! Nichts behindert die seelische Stabilisierung und alle Bemühungen unserer Schule mehr als das derzeitige Prozedere!

wb-web: Herzlichen Dank für das Gespräch!


CC BY SA 3.0 DE by Lotte Krisper-Ullyett für wb-web.de 

Gwendolyn Fischer:

Mitbegründerin der Flüchtlingsklasse an der Freien Waldorfschule Graz.  Anlässlich der Aufnahme der Geflüchteten schulte sie das gesamte Lehrer/innen/team in Traumapädagogik. Vor ihrem Ruhestand war sie Pfarrerin, Waldorfpädagogin (Religion und Ethik) und Lehrendenfortbildnerin. Die Mutter von vier Kindern lebt seit neun Jahren in Graz, wo sie im Zuge der Flüchtlingskrise mit ihrem Mann die private Anlaufstelle „WasBrauchstDu?“ initiierte.


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